Bart, du hast als Musiker und Pädagoge weltweit Erfahrung gesammelt. Gab es ein Schlüsselerlebnis, das dich dazu inspiriert hat, dieses Buch über das Üben zu schreiben?
In mehr als einem halben Jahrhundert habe ich natürlich viele Erfahrungen gesammelt. Vielleicht begann alles mit einem unscheinbaren kleinen Büchlein, das ich in einer Musikalienhandlung am Concertgebouw in Amsterdam entdeckte. Es trug den Titel „Het studeren van de muziekstudent“ von Professor Kop.
Ohne auch nur einen Blick hineinzuwerfen, kaufte ich es sofort – als hätte ich jahrelang nach genau solchen Ideen und Strategien zum Üben gesucht. Weitere Erlebnisse bestätigten meine Überzeugung, dass effektives Üben eine zentrale Rolle spielt. Eine Studie aus Göteborg zeigte beispielsweise, dass die Erfolgsquote von Studierenden um 22 % stieg, nachdem sie einen Kurs über das Lernen absolviert hatten. Auch die Aussagen zahlreicher Interpreten und Komponisten inspirierten mich, intensiver über das Üben nachzudenken. Liszt sagte einst, dass die Technik des Übens wichtiger sei als das Üben der Technik. Und tatsächlich: Lernen ist eine tägliche Aufgabe für jeden professionellen Musiker – eine Fähigkeit, die man stetig verfeinern kann.
Ein weiteres prägendes Erlebnis war meine Begegnung mit einem flämischen Professor, der an Grundschulen über effektive Lernstrategien sprach. Seine klar strukturierten Einsichten waren eine Offenbarung und inspirierten alle Anwesenden, Eltern, Lehrer und Kinder, gleichermaßen. In Belgien gab es eine solche Veranstaltung speziell für Musikschüler nicht, was ich kaum nachvollziehen konnte.
Auch die Welt des Sports war für mich stets eine große Inspirationsquelle. Dort fand ich oft eine tiefere Wissenschaftlichkeit und Methodik in der Herangehensweise – nicht nur, um die Leistung zu steigern, sondern, um einfach Freude am Spiel zu haben und nach einem „guten Gefühl“ zu streben. Denn am besten lernt man, wenn man entspannt ist.
In deinem neuen Buch präsentierst du 19 Perspektiven auf das Thema „Lernen” und 30 motivierende Übemethoden. Gibt es eine Methode, die dir besonders am Herzen liegt, und warum?
Viele der Tipps in meinem Buch können Musikerinnen und Musikern helfen – und jeder lernt auf seine eigene Weise. Doch eine Idee, die mich von Anfang an fasziniert hat, stammt vom verstorbenen Cellisten Gerhard Mantel. Sein Konzept der „Rotierenden Aufmerksamkeit“ bedeutet:
• das Gleiche noch einmal, bzw. noch mehr des Gleichen: bloß mechanisch wiederholen; positiv ausgedrückt: einmal ist keinmal (es muss wiederholt werden: das „primitive“ Prinzip des Übens)
• das Gleiche etwas anders: differenzierend und variierend wiederholen (Prinzip: die Aufmerksamkeit immer neu fesseln)
• das Gleiche deutlich verändert: in verschiedenerlei Hinsicht übertreiben, erproben, experimentieren, erforschen, verfremden (Prinzip des forschenden Übens)
• das Gleiche zergliedert: Teile schrittweise und systematisch erarbeiten (die Prinzipien: vom Kleinen zum Großen; vom Leichten zum Schwierigen)
• das Gleiche von verschiedenen Seiten: einzeln und der Reihe nach verschiedene Aspekte verbessern (Prinzip der „rotierenden Aufmerksamkeit“ (nach Gerhard Mantel); oder auch: vom Einfachen zum Komplexen)
• das Gleiche beschleunigt: präziser, reibungsloser, eleganter und müheloser wiederholen (Prinzip des Automatisierens)
Dasselbe ist nicht das Gleiche, und Wiederholen ist nicht einfach Wiederholen. Es kommt auf die Qualität des Wiederholens an – und genau das ist entscheidend.
Auf diese Weise wird Üben zu einem Lernprozess, zu einer ganz eigenen Kunstform. Jede Art der Wiederholung bedeutet ein weiteres Lernen.
Dieses Prinzip habe ich als Musiker immer weiterentwickelt und vertieft. Alles, was ich in Vorträgen, Meisterkursen sowie englisch- und deutschsprachiger Fachliteratur über effektives Üben gefunden habe, hat mich inspiriert. Ich habe förmlich alles verschlungen, was mir dabei half, meine Wiederholungennoch gezielter zu gestalten. Das Ergebnis ist eine faszinierende Art des Übens, bei der die Verfeinerung der Klangschönheit, Kreativität und die Freude am Entdecken im Mittelpunkt stehen.
Indem man den Fokus bewusst verschiebt und die Herangehensweise variiert – durch Zuhören, Singen, Dirigieren, Spielen, Analysieren, Nachdenken, Experimentieren, Improvisieren – wird das Üben zu einem ganzheitlichen Prozess.
Diese Methode ist nicht auf sofortige Ergebnisse ausgerichtet, sondern erlaubt es, die Musik in ihrer ganzen Tiefe zu erfassen. Jeder Übetag sieht anders aus, was das Lernen lebendig und inspirierend macht. Für mich ist das ein unglaublich bereichernder Weg.
Viele Musiker kämpfen mit Motivationsproblemen beim Üben. Hast du einen konkreten Tipp aus deinem Buch, der sofort hilft, die Freude am Üben neu zu entdecken?
In Belgien halte ich viele Vorträge an Musikschulen zu diesem Thema. Interessanterweise werde ich nicht so sehr gebeten, ein Buch über das Üben zu schreiben, sondern viel häufiger höre ich die Frage: „Wie kann ich mich oder mein Kind motivieren, täglich zu üben?“
Als frischgebackener Absolvent des Konservatoriums erstellte ich für mich selbst eine Liste mit Motivationstipps. Darauf standen unter anderem folgende Ideen:
- Backe Pfannkuchen für deine Schüler,
- besuche die Schüler zu Hause,
- organisiere Vorspielabende,
- kombiniere Gruppenaktivitäten mit Einzelunterricht,
- besuche mit deiner Klasse Konzerte,
- spiele regelmäßig selbst vor,
- denke an lobende Worte,
- feiere Erfolgserlebnisse.
Diese Liste – die ich bis heute aufbewahrt habe – wuchs auf 60 Tipps, die aus reinem Idealismus für das Fach Musik entstanden sind.
Dein Buch richtet sich an Schüler, Profis, Lehrerund sogar Eltern. Gibt es eine zentrale Erkenntnis, die für alle gleichermaßen wertvoll ist?
Wir alle müssen üben, uns verbessern und mit Enttäuschungen umgehen. Mein Fokus liegt zwar auf der Musik, doch für mich geht es um viel mehr. Es ist eine Reflexion des Lebens selbst. Alles, was ich in der Musik erlebe, finde ich auch im Alltag wieder. Musik birgt keine Geheimnisse – sie spiegelt einfach das Leben wider: wer wir sind, wie wir wachsen, wie wir mit Rückschlägen, Gegensätzen und Schönheit umgehen.
Vor allem aber lehrt sie uns, mit Liebe die Schönheit zu erkennen und zu bewahren.
Du bist viel als Musiker und Dozent weltweit unterwegs.
Wie übst du, wenn du unterwegs bist – hast du einen Tipp, wie man sich schnell in einer neuen Umgebung wohl genug zum Üben fühlt?
Wenn ich unterwegs bin, erreiche ich nie das ideale Üben, das ich zu Hause gewohnt bin. Zu Hause habe ich einen gemütlich eingerichteten Musikraum, in dem ich völlig abschalten kann, sobald ich die Tür schließe und mein Handy ausschalte. Meine Familie weiß, dass sie mich dort nicht stören soll. Diese Ruhe, dieses sichere Umfeld für meine musikalische Entwicklung fehlt mir auf Reisen oft. Stell dir vor: Du bist in New York und hast abends ein Konzert. Natürlich möchtest du auch etwas von der Stadt sehen. Dein Hotelzimmer ist winzig, kaum Platz für ein Bett und deine Koffer. Dazu kommt eine anstrengende Reise – die Bedingungen sind einfach nicht ideal für konzentriertes Üben.
Allerdings habe ich durch das viele Reisen die mentale Übemethode sehr zu schätzen gelernt. Als Student dachte ich, dass ich nicht wirklich übe, wenn ich mir ohne Instrument das Notenbild, die Bewegungen und den Klang nur vorstelle. Doch das Gegenteil ist der Fall! Es ist eine anspruchsvolle, aber äußerst effektive Herangehensweise, mit der man kontinuierlich mit Musik beschäftigt bleibt.
Dank der digitalen Möglichkeiten im Jahr 2025 kann man zudem jederzeit viel Musik hören – für mich eine perfekte Art, motiviert zu bleiben, auch wenn das physische Üben gerade nicht möglich ist.
Du beschreibst das Üben als einen Balanceakt zwischen Kopf und Herz, Perfektion und Imperfektion, Erfolg und Rückschlägen. Wie gelingt es dir, diese Balance zu halten und das Üben als erfüllende, statt als belastende Aufgabe zu erleben?
Dieses Gleichgewicht zu finden – die Balance zwischen Ratio (Denken) und Herz (Fühlen), zwischen dem Streben nach Perfektion und der Kraft des Imperfekten, zwischen dem Umgang mit Rückschlägen und Erfolgserlebnissen, zwischen dem Wunsch nach einem inneren Wohlgefühl und den Herausforderungen von Stresssituationen (Wettbewerbe, TV-Auftritte, Presse) – all das macht das Üben so anspruchsvoll. Üben bedeutet nicht nur, Musik zu üben, sondern auch sich selbst. Musik bereichert uns, zeigt uns, wer wir sind und wer wir werden. Gutes Üben ist entscheidend. Ich versuche immer, mich dabei wohlzufühlen, zu genießen. Ich bin dankbar, dass ich täglich die Disziplin aufbringen kann, zu üben. Es fühlt sich nie wie Arbeit an, sondern wie eine Leidenschaft, die mir fehlt, wenn ich einen Tag nicht üben kann. Die vielen ermutigenden Worte des Publikums und die Begeisterung der Teilnehmer meiner Kurse machen das Üben noch ein Stück leichter und motivierender.
Weitere Informationen findet Ihr hier und in der HN Aktuell (Frühjahr 2025).